Vorwort 2017

"Das Ich entsteht in einer Vermutung über das Ich,
sie fragt nicht, wer ich bin, eher, wer könnte ich sein?"
              - Roger Willemsen, "Momentum"







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Das größte Glück des Menschen ist, dass er nicht bleiben muss, wie er ist, dass er in der Lage ist, sein Bewusstsein und damit sich selbst umzugestalten. Das größte Pech des Menschen ist, dass er abhängig ist von Menschen, die glauben, sich nicht verändern zu können, verändern zu müssen: all das Leid auf der Welt lässt sich darauf zurückführen, dass bestimmte Menschen nicht bereit sind, sich selbst, also ihr Weltbild, ihre Werte und Gewohnheiten und alles was dazu gehört zu erneuern.
Das Wort "Ich" suggeriert, dass es eine feste, immergleiche, zentrale Instanz gibt, die bestimmt, wie man sich verhält, was man denkt und fühlt, doch diese Instanz, diese Substanz gibt es nicht: das Ich ist ein instabiler, dezentraler Prozess, auf den kein Verlass ist, der nicht in Griff zu bekommen ist und den man nicht genügend kommunizieren kann. - In seiner Gesamtheit ist dieses Buch eine Absage an das Konzept einer personalen Identität, ein fragmentarisches Plädoyer für eine experimentelle, abenteuerlustige Nutzung des eigenen Gehirns und einen lustvollen, solidarischen Alltag im fragilen, undurchschaubaren Theater der Zivilisation.
Die zahlreichen Möglichkeiten, das eigene Bewusstsein zu verändern, sind Werkzeuge, um sich zu behaupten und die Welt zu erfahren, sind Genussmittel, die helfen sich und die Welt zu ertragen und sind Waffen, mit denen man sich im Alltag verteidigen und im Notfall auch angreifen kann. Die Wahl der Mittel, die Art und Weise ihrer Anwendung und die Reflexion darüber beeinflussen die Wirkung der Mittel. Es kann gewiss gefährlich sein, bestimmte Mittel zu unterschätzen, aber ist es nicht auch fahrlässig, bestimmte Mittel überhaupt nicht kennenlernen zu wollen wegen bestimmter Ängste oder bestimmter Prinzipien?





Folgende Werkzeuge habe ich in den letzten zehn Jahren schätzen gelernt, um mich grundlegend zu modifizieren und mein Leben neu auszurichten und ihnen widme ich diese Triologie:

- Schlaflosigkeit
- Psychedelika und
- Sozialismus.
Mit dem Buch, das in den von Überdruss und Nüchternheit schlafgestörten Jahren entstanden ist, möchte ich beweisen, dass ich zurecht berentet bin und keinesfalls auf dem Arbeitsmarkt erfolgreich und glücklich werden kann; mit "Blumen und Löcher" plädoyiere ich für die Zulassung von psychoaktiven Hanfblüten als Antidepressivum und für die Übernahme der Kosten durch die Krankenkassen - die generelle Prohibition demütigt alle, die sinnlos leiden und stellt einen nicht (oder nur von rückwärtsgewandten Pessimisten) hinnehmbaren Eingriff in die Persönlichkeitsrechte eines freien Menschen dar; "Die Abschaffung" behauptet das Menschenrecht auf Dissoziation, indem es demonstrativ die Pflicht bestreitet, "so zu bleiben wie man ist". Ein gutes Leben - und diese Anmaßung rettet mich vor dem traurigen Gespenst Ostdeutschland - ist möglich, wenn man die eigene Empfindlichkeit übersteuert und sich in einer Bürokratie des Mitempfindens solidarisiert mit allen Elenden und Verlierern des Planeten. Mit dieser Trilogie setze ich meinen bürgerlichen und psychologischen Auflösungserscheinungen ein Denkmal, in dessen Schatten ich zur Ruhe kommen und meine Kandidatur als Erfurter Bürgermeister vorbereiten kann.





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Ich bin sehr froh, in der Lage zu sein, diese Mittel einzusetzen, ich verdanke ihnen, kurz gesagt, meine Emanzipation von der kleinbürgerlichen, lieblosen, hysterischen Mentalität, die im Erzgebirge - von da stamm ich - weit verbreitet ist und zumindest meine ungebildeten, infantilen, niederträchtigen Eltern vollständig im Griff hat. Was das Erzgebirge aus mir gemacht hat, musste ich hassen und ich verdanke es all den großartigen Werkzeugen, dass ich an meinem Selbsthass nicht zugrunde gegangen bin, und nun, seit zehn Jahren lebe ich in Erfurt, weiß ich, was ich mit mir anfangen soll, ich stehe mit beiden Beinen in meiner schiefen, dunklen Welt und mein Gesicht leuchtet, wenn ich mich an die Möglichkeit einer radikalen Verbesserung der Lebenswirklichkeit sämtlicher Menschen der Erde festhalte.
Zu meinem Glück gehört übrigens auch, dass ich weiß, was ich nicht nötig habe, nicht nötig haben will: die üblichen Mittel zur Bewusstseinsverengung: Alkohol, Amphetamine, synthetische Antidepressiva und Opiate; und im weiteren Sinne Ideologien wie Gott, Muttersprache, Vaterland, Wahrheit, Schuld, Erwerbsarbeit, Familie, Popmusik, Autos und Fleisch.





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Experimente mit dem eigenen Bewusstsein sind große, seltsame Abenteuer - vielleicht die letzten verbliebenen - zu denen sich jeder verpflichtet fühlt, der keinen festen, gemütlichen Platz in der menschlichen Gemeinschaft hat. Die Unsicherheit der eigenen Existenz reizt zum Äußersten: nämlich der Frage nachzugehen, was es mit dem eigenen Gehirn auf sich hat.
"Was bin ich?", "Warum bin ich so und nicht anders?", "Was passiert mit mir, wenn ich mehrere Tage wach bleibe oder mehrere Tage nichts esse oder dieses oder jenes Molekül in mein System installiere?", "Was kann ich ernst nehmen?", "Wem oder was muss ich mich unterwerfen?", "Wie kann ich mein Leben nach meinen Vorstellungen verändern?", "Woher kommen meine Vorstellungen?", "Wer profitiert von meiner Moral?", "Wo genau ist mein Selbst lokalisiert?", "Ist das Ich ein Ding oder ein Prozess oder eine Illusion?", "Wo höre ich auf und wo beginnt die Welt?", "Wer stellt sich diese Fragen?" - Die Vertiefung dieser Fragen hat mir den Boden unter den Füßen weggenommen und hier, in der Schwebe, im Ungefähren, im Missverständlichen, im Vagen, im Unaussprechlichen, im Zwiespalt habe ich endlich den Ort gefunden, an dem ich mich aufrichtig und lebendig und glücklich fühle. Bin ich angewiesen auf Menschen, die mir das glauben?





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Für gewöhnlich nimmt man das eigene Bewusstsein als gegeben hin, man denkt vielleicht gar nicht darüber nach, was es genau ist: erst, wenn man es bewusst verändert, es damit in Frage stellt, wird es zu einem skandalösen Rätsel, wird man selbst zu einem Rätsel, dem niemand gewachsen sein kann. Seit ich zum ersten Mal über dreißig Stunden wachgeblieben bin, weiß ich, dass mein Personalpronomen in Anführungsstriche gehört: "ich" bin viel mehr als der, der ich im nüchternen, ausgeschlafenen Alltagszustand bin, "ich" bin viel mehr als ich sein will, mehr als ich kennen kann. "Ich" kann "mich" nicht kontrollieren, sondern nur beobachten, wie mein Gehirn tut, was es tun muss, wie mein Körper tut, was er tun muss. Wer ist es, der das alles wahrnimmt? Erschöpft von Luzidität sinke ich an den äußersten Rand meiner körperlichen Existenz; organische Masse, verdammt dazu, wahrzunehmen, unfähig, Entscheidungen zu treffen, ausgeliefert dieser Stadt, dieser Wohnung, dieser Sprache, respektlos gegenüber sittlichen und ästhetischen Selbstverständlichkeiten in einem Leben eingeklemmt, das zwischen zwei Unendlichkeiten Nichts eingeklemmt ist, ohne Aufgabe, ohne Haltung, ohne Substanz, ohne Kern, ohne Richtung. Die Schlaflosigkeit hat mich in das formlose, ziellose, endlose Wirrwarr gestoßen, das mich im Innersten zusammenzuhalten scheint; sie hat mir bewiesen, dass ich absolut nichts wert bin, dass überhaupt nichts einen Wert hat und dass man frei nur sein kann, wenn man gleichgültig gegen alles ist, nichts auf sich hält und so wenig wie möglich Spuren im Dasein hinterlässt.
Vor vier Jahren, im Sommer 2014, habe ich Marihuana als Werkzeug entdeckt, mit dem ich diesem Nihilismus, der langsam zu gewaltiger Paranoia und Depression führte, etwas Gemütliches, Schöpferisches, Manisches entgegenzusetzen konnte. Gras stärkte meine Empathie, polsterte meine Zweifel und half mir, mich als Schriftsteller und Musiker wirklich ernst zu nehmen. Ich therapiere mich seither mit diesem Kraut und sowohl mein Psychiater als auch mein Psychotherapeut haben bisher nichts dagegen einzuwenden. Die Heiterkeit und die Gelöstheit können nämlich so weit getrieben werden, dass man sich vorstellen kann, eines Tages Bürgermeister zu werden und die Stadt in ein gemütliches Wohnzimmer für alle zu verwandeln. Nur ein solch unverschämtes Ziel kann einen Verlierer wie mich motivieren, im Laufe des Nachmittags das Bett zu verlassen.





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"Wären doch alle so entspannt und empfindlich und mutig wie ich!", seufzt der illegale Tagträumer im Schatten einer Trauerweide und zieht nochmal an seinem Graspfeifchen. Überfordert, aber heiter, wirr, aber guter Dinge, langsam, aber genau, tollpatschig, aber zärtlich lässt er sich das Leben gefallen, gefällt er sich als sich selbst rätselhafter Teilnehmer an einer sich selbst rätselhaften Menschheit mit ihren rätselhaften Institutionen. "Wenn sich nur mehr Leute über sich und die Welt wundern könnten, ohne sich für eine feste Wahrheit zu entscheiden!", flüstert der Tagträumer, im Stadtzentrum auf dem Rücken liegend, in der Mitte seines Lebens in die Wolken starrend; ein Gieriger von vielen, so offensichtlich, so einfach: ein Vorbild für alle, deren Lebensentwurf in eine Sackgasse aus Fleisch und Zeit geführt hat.
"Du bist nicht gezwungen, weiterzumachen wie bisher! Du kannst alle Werkzeuge ausprobieren, die deine Persönlichkeit verändern!", ruft er denen zu, die sich verlieren müssen, um nicht erniedrigt und gefressen zu werden von der Großen Maschine. "Es ist immer genau die richtige Zeit für gefährliche Experimente! Stabilität und Sicherheit sind Bedürfnisse der Gelangweilten und Erloschenen. Als freier, lüsterner, überempfindlicher Mensch eine Welt wollen, in der alle ein schönes Leben haben, ist ein kleines, harmloses Kunststück, das nur diejenigen verstört, die nicht wissen, was Liebe ist. - Oh! Ihr seid mehr als Ihr glaubt! Zerfasert Euch! Dröselt Euch auf! Springt über die Klippe, denn das wilde Meer wird Euch empfangen ... Macht Euer Leben zu einem Fest für Eure besten Werte! Eure Depression, Eure Dummheit und Gleichgültigkeit sind nur Teil eines Programms, das die Große Maschine in Euer Fleisch installiert hat! Manipuliert das Programm! Stöpselt Euch aus! Behauptet Euch neu und verändert die Große Maschine nach Euren Bedürfnissen! Spielt mit allem! Nehmt nichts ernst außer Eure Neugier und Eure Liebe und lasst Euch gehen!"





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Woran halte ich mich fest? An meiner fadenscheinigen Fähigkeit, Songs zu schreiben und zu performen, und an meiner Zuversicht, eines Tages ein anerkannter Schriftsteller und eines späteren Tages Bürgermeisterkandidat zu werden. Der Weg ist so klar, dieses Buch ist einer von vielen notwendigen Schritten. Wer beim Lesen mindestens dreimal lachen kann, gehört in meinen innersten Kreis und kann sich meiner Liebe und Loyalität sicher sein.





Februar 2018,

Demien Bartók